SWP-Interview des Kreisvorsitzenden: „Mittelmaß macht keine Medaillen“

  10.09.2023
Aus deutscher Sicht war die Leichtathletik-WM in Budapest die bisher schwächste der Geschichte. Thomas Mürder, Vorsitzender des LA-Kreises Göppingen, erkennt System-Schwächen.

Die ehemalige Leichtathletik-Nation Deutschland hat Probleme, mit der Weltspitze mitzuhalten. Das hat die am 27. August zu Ende gegangene WM zweifellos gezeigt, denn keine einzige Medaille befand sich im Gepäck der Athletinnen und Athleten, wo einige enttäuscht aus Budapest zurückgekehrt sind. Viele Disziplinen waren überhaupt nicht besetzt und es wurden auch weniger Qualifikationen zu den Finalkämpfen erreicht.

Thomas Mürder, Vorsitzender des Leichtathletikkreises Göppingen und Mitglied des Aufsichtsrats des Württembergischen Leichtathletikverbandes (WLV), hat einige Gründe parat, die Sand in das Getriebe gebracht haben.


Weshalb haben die Deutschen so schlecht abgeschnitten?

„Die Leichtathletik-WM fügt sich in das Bild ein, das der deutsche Sport bei internationalen Meisterschaften abgibt. So im Schwimmen, im Rudern, im Fußball und selbst im Biathlon erzielen deutsche Sportlerinnen und Sportler und die Mannschaften nicht mehr die Erfolge der Vergangenheit. Es stellt sich somit die Frage, ob der Stellenwert des Spitzensports in Deutschland vergleichbar ist mit anderen Nationen. Wer internationale sportliche Höchstleistungen und Medaillen will, muss auch in der staatlichen Förderung des Sports Höchstleistungen bringen: Mittelmaß macht keine Medaillen. Die unterschiedlichen Disziplinen in der Leichtathletik mit Sprung, Wurf und Laufdisziplinen machen die Analyse der Situation komplizierter. Außerdem muss man die individuelle Situation eines talentierten Sportlers mit dem besten Förderungssystem in Einklang bringen. Ich denke, hier muss der DLV mit den Landesverbänden strukturell ansetzen. Auffallend ist, dass die Leichtathletik im Jugend- und Juniorenbereich international gut abschneidet. Der Bruch danach hängt auch damit zusammen, welche finanziellen und beruflichen Perspektiven den Talenten geboten werden. Andere Nationen sind uns hier um Längen voraus. Die Spitzensportförderung bei den Polizeien des Bundes und der Länder, der Bundeswehr und beim Zoll, stellen zwar eine wichtige Säule dar, decken aber logischerweise nicht alle Berufs- und Zukunftswünsche ab.

Wo sind noch Ansatzpunkte zu sehen?

Das eigentliche Problem beginnt viel früher. Das Schulfach „Sport“ führt in den Schulen einen Dornröschenschlaf, trotz der wissenschaftlichen Erkenntnis, wie wichtig Sport für die Gesundheit und auch für die kognitive Entwicklung eines Kindes ist. Wie kaum ein anderes Fach, bietet der Sport Kindern und Jugendlichen Aspekte wie Fairness, Disziplin, Zielorientierung, Teamarbeit und den Umgang mit Sieg und Niederlage und vermittelt praxisnah den Zusammenhang zwischen Leistungsbereitschaft und Erfolg. Deshalb kommt meines Erachtens die veränderte Bewertung der Bundesjugendspiele einer Inkompetenz in Sachen kindlicher Förderung ziemlich nahe.   

Wie sieht es an der Basis aus?

Betrachte ich die Situation der Leichtathletik im Kreis Göppingen, so kann ich mit einer gewissen Zufriedenheit feststellen, dass wir bis hin zu den Dreizehn- bis Vierzehnjährigen sowohl zahlen- als auch leistungsmäßig gut dastehen. Mit unseren Liga-Wettbewerben um die Sparkassenpokale haben wir seit Jahren ein Format, um Talente zu entdecken und zu begleiten. Im Alter darüber hören viele, vor allem Jungs, auch talentierte, mit der Leichtathletik auf. Eine Ursache ist die Konkurrenz zu Ballsportarten, bei denen die Leistung eines Einzelnen nicht so messbar ist und stets mit Bestenlisten abgeglichen werden kann. Die Leistungsbereitschaft und der Einsatz für eine Individualsportart müssen deshalb höchstwahrscheinlich noch stärker ausgeprägt sein als bei Mannschaftssportarten, bei denen ein Mannschaftserfolg zur Motivation beiträgt. Mit zunehmendem Alter der Talente erfolgt die Spezialisierung auf bestimmte Disziplinen und damit wird der Betreuungsaufwand der Vereine größer. Sie bräuchten mehr Trainer. Ich habe Hochachtung vor den vielen ehrenamtlichen Trainerinnen und Trainern in den Kreisvereinen, aber sie stoßen an ihre Grenzen. Natürlich fordert auch die Leichtathletik ein ganzjähriges Training. Wir haben im Kreis Göppingen mit dem Makel zu leben, dass es keine einzige für Leichtathletik geeignete Halle gibt.

Wie sieht Ihr Blick in die Zukunft aus?

Die traditionellen Sportarten haben in den vergangenen Jahren viel Konkurrenz von sogenannten Trendsportarten erhalten, die auch außerhalb der Vereine praktiziert werden können. Auch die Leichtathletik muss sich in diesem Umfeld, zu dem immer mehr auch der sogenannte E-Sport fälschlicherweise gezählt wird, behaupten. Die Leichtathletik ist aber mit ihren Grundbewegungen Laufen, Werfen und Springen weiterhin die Basis vieler Sportarten, aufgrund der unterschiedlichen Disziplinen auch für unterschiedliche Menschentypen geeignet und immer noch das Herz der Olympischen Spiele. Wir werden deshalb auch auf Kreisebene weiterhin mit viel Herzblut und Optimismus unseren Beitrag leisten, dass es Talente in die Weltspitze schaffen.

Bundesjugendspiele

Im kommenden Schuljahr sollen die Bundesjugendspiele in der Grundschule kein Wettkampf mehr sein und die Punktetabelle soll für Deutschland laut einem Beschluss des Familienministeriums und der Kultusministerkonferenz abgeschafft werden. Wie weit ein Kind beim Weitsprung kommt oder wie schnell es über 30 m sprintet, soll nur noch mit Blick über den Daumen und nicht mehr mit dem Maßband oder der Stoppuhr erfasst werden.


 Der Original-Bericht erschien am 05.09.2023 auf  (Paywall, nur für Abonnenten!)

Rolf Bayha